Leadership-Erfolgsfaktoren in disruptiven Zeiten – Teil 1

Marcel Ramin Derakhchan13. Oktober 2019

Marco Thelen im Gespräch mit dla

Welche Führungsstile- und Kulturen Mitarbeiter dazu motivieren, die Extrameile für den Unternehmenserfolg zu gehen, schildert der zweite Teil des Interviews.

dla: Herr Thelen, vor seinem Ausstieg bei Daimler richtete Dieter Zetsche einen deutlichen Apell an die Automobilindustrie: „Ohne Wandel sind wir erledigt“. Auch in anderen Branchen steigt der Veränderungsdruck – mal mehr, mal weniger rapide. Welche Triebkräfte sehen Sie hier am Werk?

Marco Thelen: Generell sind vor allem Unternehmen betroffen, deren traditionelle Wertschöpfungsketten plötzlich aufbrechen oder wegzufallen drohen. Etwa beim Thema Innovationskraft: F&E-Teams, die jahrelang komplett abgeschottet arbeiteten, sollen via Crowdsourcing Plattformen mit Partnern, Kunden oder sogar dem Wettbewerber zusammenarbeiten – aber nicht irgendwann, sondern schon im nächsten Jahr. Solche Veränderungen sind für sich genommen schon einmal anspruchsvoll.

„Die gute Nachricht in Sachen Transformationsdruck: Ein Ende ist nicht absehbar.“

Aber ich glaube, den größten Leidensdruck – über alle Disziplinen hinweg – erzeugt dabei das Thema Komplexitätsbewältigung, massiv befeuert durch die Digitalisierung. Hinzu kommt die Geschwindigkeit, in der sich heute Märkte verändern, d.h. man muss in einer brutalen Taktung neue Produkte und Leistungen launchen. Gerade traditionell organisierten Unternehmen fällt es oft schwer, da mitzuhalten. Denn sie müssen einerseits ihre Produkt- und Serviceportfolien stark diversifizieren und zugleich die eigene, über Jahre gewachsene Organisation mitnehmen und umbauen. Das ist ein gewaltiger Stresstest. Aber es gibt eine gute Nachricht: Ein Ende ist nicht absehbar.

dla: Warum ist das eine gute Nachricht?

Marco Thelen: Weil es eine Organisation stärken kann, wenn sie das Prinzip einer permanenten Wandlungsfähigkeit versteht und zu leben beginnt. Diese Veränderung beginnt, wenn Führungskräfte und Mitarbeiter begreifen, dass der Sturm nicht vorüberzieht – sondern die Organisation zu neuen Ufern trägt.

„Veränderung beginnt, wenn die Mitarbeiter begreifen, dass der Sturm die Organisation zu neuen Ufern trägt.“

Allerdings ist das leicht dahingesagt, wenn sich zum Druckaufbau das Gefühl der Überforderung gesellt, eben diesem Druck nicht standhalten zu können. Dieser Situation ist nur durch das konsequente Enablement der eigenen Mitarbeiter entgegenzuwirken. Bedeutet: der Wechsel von einer direktiven Führung hin zu einem People-Management, das Mitarbeitern eigene Entscheidungsspielräume einräumt, sie für ihre Aufgaben vorbereitet und einbezieht. Direktive Führung, Angst vor Veränderung und Sanktionierung von Fehlern stellen dagegen eine extrem gefährliche Umgebung für Mitarbeiter dar. Dies führt nicht zuletzt dazu, dass Komplexität negiert werden muss: ‚Wir machen einfach weiter wie immer‘. Es sei denn, man zeigt ihnen Auswege.

dla: Wo setzen gute Führungskräfte an, um diesen Wechsel zu initiieren?

Marco Thelen: Bei sich selbst. Wer seit Jahrzehnten direktiv führt, ändert seine Verhaltensmuster nicht nach drei Workshops oder Leadership-Trainings. Es fordert viele Führungskräfte zum Beispiel enorm, vom Mikromanagement loszulassen und den Mitarbeitern sukzessive mehr Vertrauensvorschuss zu geben. Das fällt natürlich den Managergenerationen besonders schwer, die auf ihrem Karriereweg komplett gegenteilig ‚sozialisiert‘ wurden.

Zusätzlich muss die Führungskraft in der Lage sein, den ‚Leitstern‘ für die Marschroute bei der Transformation zu identifizieren und zu vermitteln. Also den Mitarbeitern klar zu machen, in welche Richtung es denn nun wie gehen soll – und dieses Ziel immer wieder neu zu justieren. Das ist in keiner Organisationsform trivial, damit ringen Manager aller Altersgruppen, im Startup und im Konzern.

dla: Herr Derakhchan, als Personalberater unterstützen Sie Unternehmen, die in der Regel einem besonders starkem Veränderungsdruck ausgesetzt sind – teilen Sie diese Einschätzungen?

Marcel Derakhchan: Ja, wobei ich einen Punkt ergänzen möchte: Mit mehr Vertrauensvorschuss führen bedeutet nicht, Verantwortung abzugeben. Nicht nur auf Teamebene, sondern an allen Stellen der Organisation. Stichwort ‚Fehlerkultur‘, zum Beispiel: Steht die Führungsriege wirklich hinter einer Unternehmenskultur, in der Mitarbeiter die Hand heben dürfen, wenn sie das Gefühl haben, dass etwas nicht in die richtige Richtung läuft? Oder sanktioniert man so ein Verhalten weiterhin?

„Mit mehr Vertrauensvorschuss führen bedeutet nicht, Verantwortung abzugeben.“

Sowohl ‚Dieselgate‘ als auch das Boeing-Desaster sind ja Paradebeispiele für den problematischen Versuch, den Weg in die neue Welt mit den Methoden der alten zu finden. Kritische Stimmen aus den eigenen Reihen stören, wenn man mit dem Tempo des Marktes Schritt halten und die Erwartungen der Shareholder erfüllen will. Hier sind wir wieder beim omnipräsenten Transformationsdruck. Und in dieser Situation – da bin ich ganz bei Marco Thelen – ist ein ‚Weitermachen wie bisher‘ meist die schlechteste Option.

dla: Wie gelingt in Hinblick auf das Thema Fehlerkultur Veränderung?

Marco Thelen: Zuerst einmal, indem man Illusionen zerstört! Heute dürfte eigentlich kein global operierendes Unternehmen, ob DAX-Konzern oder Mittelständler, Unzulänglichkeiten in der Organisation auf seine abendländische Historie schieben. Doch genau das passiert häufig.

Anstatt sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen, sollte man die Aufmerksamkeit auf die Zukunft richten, flache Hierarchien und eine niedrigere Machtdistanz schaffen. Und sich ein Bild davon machen, wie denn in Zukunft Arbeit überhaupt funktionieren soll. Wie lässt sich herausfinden, welche Talente bzw. Stärken in der Organisation vorhanden sind? Sei es beim einzelnen Mitarbeiter, in kleinen Teameinheiten oder im interdisziplinären Zusammenspiel von Abteilungen?

dla: Das klingt, als ob Führungskräfte vor allem als Talentmanager gefordert sind …

Marco Thelen: Nein, das ist nicht der Fall. Ein Talentmanager verstärkt Fähigkeiten, muss dazu aber nicht die langfristige Marschrichtung des Teams oder der Organisation kennen. Beides zu können, ist ein klassisches Führungsparadigma. Bei flachen Hierarchien genügt das aber nicht mehr.

dla: Weswegen?

Marco Thelen: Weil sich Ziele nicht im Jahres-, sondern Monats- oder Wochentakt ändern können. Führungskräfte müssen also den Kurs, auf dem sich das Unternehmen, die Abteilung oder das Team befindet, immer wieder überprüfen und anpassen. Wie gesagt: Wer als Führungskraft seine Mitarbeiter mit einem Vertrauensvorschuss ausstattet, beschäftigt sich weniger mit Kontrolle und Mikromanagement. Die gewonnene Zeit sollte sie oder er darin investieren, eine Vision zu entwickeln, zu vermitteln und dann immer wieder mit allen Mitarbeitern im erweiterten Umkreis zu überprüfen, wo man steht: Welche Werte teilen die Mitarbeiter? Inwiefern zahlt das auf die Vision ein? Ist die überhaupt noch richtig? Muss die Führungsmannschaft die Vision anpassen oder der Mitarbeiter sein Handeln?


dla: Justieren, prüfen, vermitteln – wie passt das zum Idealbild des Top-Managers, der im Alleingang die Organisation auf ein neues Level hebt?

Marcel Derakhchan: Diese Vorstellung vom Manager im Superhelden-Modus ist ein Auslaufmodell. Die heutigen Herausforderungen sind so vielschichtig, dass sie nur im Teamverbund lösbar sind. Wie im Mannschaftssport brauchen Sie einen Kapitän bzw. einen Coach für die Ausrichtung, aber die Meisterschaft gewinnt man nur gemeinsam.

Dieser Coach sollte natürlich Kompetenzen mitbringen, die in eine Zeit ständiger Veränderung passen. Zum Beispiel: Ein „Transformation Manager“ akzeptiert den Status Quo, ein „Transformation Leader“ hinterfragt ihn. In unserem Leadership Profiling gleichen wir anhand solcher Aspekte auch ab, in welchen Teamkonstellationen sich diese beiden Führungstypen gut ergänzen.

„Komplexität kann die Daseinsberechtigung für interdisziplinäre Teams sein.“

Marco Thelen: Neben den Kompetenzen spielt auch die Teamdynamik eine zentrale Rolle. In unseren Beratungsprojekten stellen wir immer wieder fest, dass in Teams und im Teamzusammenhalt unter Transformationsdruck neue Komfortzonen entstehen. Das ist wichtig, denn wenn ein Großteil der Mitarbeiter ständig einem Veränderungsdruck ausgesetzt ist, muss es Ventile zur Entlastung geben. Zugleich kann Komplexität aber für interdisziplinäre Teams sogar die Daseinsberechtigung sein! Alle teilen die Einsicht, dass niemand die Aufgaben in ihrer Vielzahl und Vielschichtigkeit schultern kann.

Marco Thelen, Managing Partner bei Infosys Consulting, fokussiert sich in der Beratung auf die Bereiche Digital Strategy, Service Innovation, Digital Transformation Design und Execution sowie Cultural Change. Er unterstützt seine Kunden, komplexe Transformationen erfolgreich zu bewältigen: von der Formulierung einer Digitalstrategie, dem organisatorischen und technologischen Umsetzungsdesign bis zur Etablierung wirksamer Governance-Strukturen und Reporting-Modelle.


Marcel Ramin Derakhchan ist bei dla digital leaders advisory verantwortlich für die Besetzung von Top-Managementfunktionen in Business & Professional Services Unternehmen sowie Software- und Hochtechnologieunternehmen. Sein Spezialgebiet sind komplexe Suchmandate, die einen interdisziplinären Ansatz aus Search, Organisationsberatung und individuellem Coaching erfordern.

Weitere Informationen: Studie Celonis 2019