„Es wird sehr viel darüber gesprochen, wie man Talente findet. Und viel zu wenig darüber, wie man sie hält.“

dla-Gründer Marcel Ramin Derakhchan über den Krieg um Talente, Mitarbeiterbindung und die Zukunft der Personalfunktion in Unternehmen

Herr Derakhchan, Unternehmen suchen händeringend nach Experten- und Führungsteams – obwohl wir seit Jahren vom Krieg um Talente sprechen. Wieso haben wir dennoch diese Situation?

In einem so komplexen Umfeld wie dem Markt für hochqualifizierte Mitarbeitende, sollte man mit Erklärungen und Analysen natürlich eher vorsichtig sein. Generell beobachte ich, dass sich in den letzten Jahren die Haltung vieler Menschen in Bezug auf die Arbeit deutlich verändert hat. Der Fachkräftemangel ist tatsächlich nicht neu für uns. Aber heute wird die individuelle Sinnhaftigkeit der Arbeitstätigkeit viel stärker hinterfragt, die Bedingungen dafür, dass man die Arbeit gern macht.

Das heißt, der Fachkräftemangel ist das eine. Aber die Bereitschaft, einen erfüllenden Job zu suchen ist viel ausgeprägter als früher, es spielen deutlich mehr Kriterien eine Rolle bei beruflichen Entscheidungen. Was, wie intensiv und inzwischen auch von wo aus man arbeiten will – damit setzen sich die Menschen verstärkt auseinander.

Hinzu kommt, dass immer mehr Menschen, gerade im Gefolge der Corona-Epidemie, eine Auszeit nehmen, oder Teilzeit arbeiten wollen, oder ihre Arbeitsmodelle auch immer wieder flexibel anpassen möchten. In Summe bedeutet das, dass berufliche Entscheidungen heute sehr differenziert und anspruchsvoll sind. Und dass Arbeitgeber, die auf diese Erwartungen nicht eingehen können, an Attraktivität verlieren. Deshalb steigt auch deutlich die Wechselbereitschaft.

Rückt diese Tendenz nicht auch die Frage nach der Mitarbeiterbindung stark in den Fokus?

Absolut. In den letzten Jahren haben wir sehr viel über die Schwierigkeit gesprochen, Mitarbeitende zu finden. Und viel zu wenig darüber, wie man sie auch hält.

Im Idealfall ist es so, dass man morgens aufsteht und weiß, warum man gerade diesen Job macht, genau bei diesem Arbeitgeber und nicht irgendetwas anderes irgendwo sonst. Diese Fragen stellen sich die Menschen heute häufiger. Ich beobachte, dass die Wertesysteme sich spürbar verschoben haben. Freizeit, Familie, soziale Aktivitäten – also Lebensqualität in einem tieferen Sinn – spielen eine sehr wesentliche Rolle. Diese Entwicklung trifft auf die örtliche Entgrenzung und Virtualisierung der Arbeit. Remote Work hat uns sehr viele neue Möglichkeiten eröffnet. Aber es macht eben die Bildung von Loyalität und Commitment auch sehr viel anspruchsvoller.

Zusammengenommen stellt das für Unternehmen und deren Führungskräfte und Personalabteilungen eine große Herausforderung dar.

Denn man muss Nähe zu den Mitarbeitenden aufbauen, die auf dem schmalen Grat zwischen Unterstützung, Freiheit und der konsequenten Verfolgung von Unternehmenszielen balanciert und Zugehörigkeit mit Selbstbestimmtheit verbindet.

Wenn es nicht gelingt, die mühsam gefundenen Teammitglieder an Board zu halten, muss man nicht nur immer wieder in Sachen Personalstärke zurück auf Los. Ein ständiges Kommen und Gehen statt einer gesunden Fluktuation zerrütten das Unternehmen und beeinflusst negativ die Unternehmenskultur.

Mit Menschen, die immer wieder nach achtzehn Monaten weg sind, erreicht man nicht die nächste Stufe. Wenn ständig neue Kolleginnen und Kollegen ins Team kommen, entsteht kein Zusammengehörigkeitsgefühl und kein Vertrauensverhältnis und man verliert Kraft und Effizienz. Das sind keine Voraussetzungen, unter denen Entwicklung, Change oder Transformation sich erfolgreich gestalten lassen.

Haben die von Ihnen skizzierten Tendenzen auch einen Einfluss auf die Mitarbeiterentwicklung?

Die Berufsbiografien sind immer seltener durch die klassischen Karrierewege geprägt. Stattdessen geht es sehr stark um individuelle Entwicklungspfade. Im Fokus stehen dabei verstärkt fachliche und nicht hierarchische Aspekte. Auch weil unsere Organisationen und Arbeitsformen diesem Bild immer seltener entsprechen. Und da wird es anspruchsvoll. Denn um eine solche Entwicklung zu unterstützen, muss man nah an den Mitarbeitenden sein, Vertrauen bilden, intensive Gespräche führen, fragen und zuhören, um herauszufinden, was der individuell beste Weg ist. Dazu gehört auch offen sagen zu können, was den Mitarbeitenden fehlt, um in der Organisation erfolgreich zu sein. Erst dann kann man ja einen effektiven Support geben. Oder vielleicht an einer bestimmten Stelle auch klarzumachen, dass man bestimmte Ziele eben nicht gemeinsam erreichen kann.

„Das zeigt natürlich auch: die klassischen Leadership-Programme „von der Stange“, die man gerne „Young Talents“ überstülpt, reichen nicht aus.“

Erstens muss es bei der Mitarbeiterentwicklung eben nicht immer um Leadership gehen. Und zweitens sind solche abgekapselten, sehr oft lokal aufgesetzten Programme limitiert, weil sie wenig Diversität, Inspiration, und internationale Perspektiven zulassen. Und diese Faktoren sind heute unverzichtbar, um in einer Welt zurechtzukommen, in der die Wertschöpfung eben nicht entlang von Organigrammen und Berichtslinien strukturiert ist.

Solche Entwicklungsprogramme brauchen Zeit. Das ist der dritte Faktor. Aber wenn man 60 Stunden die Woche arbeitet, ist es fraglich, ob Inspiration und Austausch noch Platz haben. Darüber müssen sich Mitarbeitende und Unternehmen gleichermaßen Gedanken machen.

Viele Unternehmen haben erkannt, dass es nicht mehr um das Verwalten von Humanressourcen geht, sondern um die Entwicklung von Menschen und Kultur im Sinne des Unternehmens und der Mitarbeitenden. Was wäre vor diesem Hintergrund die Kernaufgabe des Unternehmensbereichs People & Culture?

Man muss einerseits genau erkennen, was die Mitarbeitenden wirklich brauchen. Und andererseits das Business verstehen, also verstehen, was das Unternehmen braucht. Was ist das Geschäftsmodell des Unternehmens, welche Kompetenzen erfordert dieses Geschäftsmodell? Wie lässt sich die Unternehmensstrategie in die People-Strategie übersetzen? Und auf dieser Grundlage muss man dann individuelle Lösungen suchen und Unterstützung anbieten. Diese Notwendigkeit wird zunehmend erkannt – aber die Übertragung in die Praxis erfolgt nicht schnell genug. Und es fühlen sich auch nicht alle Personaler, die aus einer etwas traditionelleren HR-Welt kommen, in dieser Rolle wohl. Denn man muss sich wirklich als „People Partner“ verstehen und die Führungskräfte gezielt unterstützen – nicht zuletzt auch auf der Basis eines eigenen Netzwerks, auf der Basis vielfältiger, auch internationaler Erfahrungen.

Erfordert das von Ihnen beschriebene Rollenbild des Bereichs People & Culture auch eine bestimmte Verortung innerhalb der Organisation? Ein starkes Standing, um die eigene Perspektive auch sichtbar und relevant zu machen?

Der Bereich People gehört mit einer eigenen Position in das oberste Führungsgremium der Organisation, so dass er bei allen strategischen Entscheidungen frühzeitig involviert ist. Man muss dann allerdings auch mitsprechen können, also die Menschen und das Unternehmen tief verstehen. Man muss in der Lage sein zu erklären und zu überzeugen und für die eigene Sache die fachlichen Verantwortlichen an Board holen können.

Wie schwer ist es vor diesem Hintergrund die leitenden Positionen im Bereich People & Culture zu besetzen? Wie gehen Sie bei solchen Projekten vor?

Für mich ist es absolut entscheidend zu verstehen, wo das Unternehmen hin will. Denn erst vor diesem Hintergrund lassen sich die spezifischen Anforderungen an die Führungspositionen im Personalbereich definieren. Gleichzeitig spielt die Kultur des Unternehmens als Variable im Projekt eine wesentliche Rolle. Es bringt ja nichts, wenn wir einen hervorragenden HR-Profi finden, der aber nicht zum Unternehmen passt, das wird kein erfolgreiches Miteinander. Das muss man in der Interviewphase mit den Kandidaten und Kandidatinnen schon genau abstimmen, damit dann die Unternehmensziele verstanden und mitgetragen werden und auch mit den individuellen Zielen im Einklang sind. Für ein schnell wachsendes Startup und für einen Konzern, der vielleicht einen schrittweisen Cultural Change schaffen, aber ansonsten die Strukturen stabil halten will, braucht es eher unterschiedliche Persönlichkeiten an der Spitze des Personalbereichs.

Über das Gehalt als Entscheidungskriterium für Kandidaten wird wenig gesprochen. Welche Rolle spielt es bei der Besetzung von Führungspositionen im People & Culture Bereich?

Ich erlebe immer wieder, dass das stark von der individuellen Lebensphase und dem persönlichen Mindset abhängt – was übrigens keine Altersfrage ist. Wenn Menschen dabei sind, einen Vermögensgrundstock aufzubauen, vielleicht eine Familie zu gründen und abzusichern, oder einfach ihre Vorstellungen von Erfolg eben stark mit dem Einkommen korreliert, dann spielt das Gehalt eine große Rolle. Und dann findet man, wenn man gut ist, auch diesen Fast Track, es gibt genug Unternehmen, die auch sehr hohe Gehaltsniveaus zu halten bereit sind. Bei wirklichen Führungspositionen geht es jedoch sehr stark um Purpose im weitesten Sinne, um Gestaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten. Da sagt meine Erfahrung, dass das Gehalt natürlich wichtig ist. Aber die Frage, ob man ein Plus von zehn oder fünfzehn Prozent erzielt, eben nicht die Hauptrolle spielt.

MARCEL RAMIN DERAKHCHAN
Gründer von dla und spezialisiert auf die Besetzung von Top-Managementfunktionen in Business & Professional Services Unternehmen. Hier berät er insbesondere globale Strategieberatungen, IT-Service Provider, Softwareunternehmen sowie Hidden Champions.

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