Machtstrukturen und Frauen

Marc-David Rompf spricht mit den Organisations- und Veränderungsexpertinnen Dorothea Derakhchan und Christine Solf über implizite Regeln und Machtstrukturen, gender-übergreifende Sprachkompetenz und über den Erfolg des Entwicklungs- und Veränderungsprogramm „iLead. Make it your Game“ bei Accenture.

Marc-David Rompf: Was muss geschehen, damit sich diese Muster wandeln können? Damit mehr Frauen in Führung gehen und Freude an Erfolg und Einfluss entwickeln? Und wer steht hier in der Verantwortung?

DD: Wenn man tradierte, mit kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen verwobene Muster durchbrechen will, stößt man schnell an Grenzen. Erfolgsversprechender ist es, die Muster durch mehr Bewusstheit bei den Beteiligten von innen her zu wandeln. Und das geht nicht im Handstreich. Und es geht auch nicht dadurch, dass man einseitige Verantwortlichkeiten definiert.

Zunächst einmal stehen die Frauen selbst in der Verantwortung, mutige und auch riskante Entscheidungen zu treffen. Wer etwas verändern will, muss zunächst seine eigenen Stereotypen, Glaubenssätze und Ängste hinterfragen und sich souverän mit sich selbst auseinandersetzen – wissen, was man kann, und was nicht. Wissen, was man will – und was nicht. Das erfordert auch eine ehrliche Selbstbefragung: Welchen Unterschied will ich machen? Was sind meine Werte, wie kann mein ganz authentischer Weg aussehen? Auf dieser Basis sollte dann eine genussvolle Vision des eigenen beruflichen Erfolgs entwickelt werden, ein Karriereziel: Denn Bewegung braucht ein klares Ziel und eine Richtung. Dabei kann es sehr hilfreich sein, sich Vorbilder zu suchen, an denen man sich orientieren kann. Helfen können auch effektiv genutzte Netzwerke und Mentoring-Programme.

CS: Und es müssen auch Aufgaben angegangen werden, bei denen Frauen typischerweise zurückhaltend sind: eine eigene, starke Marke aktiv aufbauen, an der eigenen Präsenz arbeiten, sich Bühnen zu suchen und sichtbar werden, sich auf Prestigeaufgaben konzentrieren. Den Fokus darauf richten, Nutzen zu stiften, etwas zu bewirken, zu führen. Das ist wichtiger als gefallen zu wollen, wichtiger als Perfektionismus. Und vor allem muss man einfach handeln – nicht darauf warten, wie Dornröschen wachgeküsst zu werden.

Aber für all das brauchen Frauen doch auch organisatorische Unterstützung. Denn sonst gleicht dieser Weg schnell dem Kampf gegen Windmühlen?

CS: Ja, natürlich – die Entwicklung weiblicher Führungsidentitäten und Führungskarrieren bedarf des Zusammenspiels mit der Organisation und den sie tragenden Entscheidern. Dabei sind alle – Frauen und Männer – gefordert. Kulturelle Veränderungen erfordern einen langen Atem und ein sehr hohes Commitment. Es beginnt damit, sich selbst in Frage zu stellen: Passt mein Denken noch zu der aktuellen Wirklichkeit? Was erschwert mir den Wandel und womit erschwere ich den Wandel, wenn auch unbewusst? Ist mein Denken förderlich für kreative und offene, auf Innovationen gerichtete Zusammenarbeit? Wie gut halte ich Unterschiede und Diversität aus? Empfinde ich sie als Bereicherung oder als Bedrohung? Bin ich bereit, Augenhöhe zuzulassen?

DD: Damit geht es dann auch auf die systemische Ebene. Hier muss das Top-Management sich entscheiden, ob es bereit ist, die Komfortzone einer etablierten Struktur zu verlassen und auch die dabei entstehende Unsicherheit und mögliche anfängliche Irritationen auszuhalten.

Diese Entscheidung kann nur dann wirklich nachhaltig sein, wenn es – erstens – eine ganz klare Antwort auf die Frage gibt: „Warum machen wir das? Warum wollen wir mehr Frauen in Führungspositionen?“ Und dann muss diese Entscheidung – zweitens – vom Top-Management, das hier als Vorbild fungieren muss, vorgelebt werden. Diese bewusste Denk- und Verhaltensänderung muss – drittens – durch durchdachte und glaubhafte Kommunikation auf allen Ebenen und zwischen den Ebenen begleitet werden. Und auch durch höhere Transparenz und Flexibilität, was Karrierepfade angeht, durch systematische Mentoring Programme und durch mehr Mut und Fantasie der Gestaltung von Rollen, Arbeits- und Teilzeitmodellen.

Sie sprachen im ersten Teil unseres Interviews die Naivität im Umgang mit Gender Diversity an – und zwar bei Frauen und Männern. Wie wichtig ist es in dem von Ihnen beschriebenen Prozess, diese Naivität zu vermeiden?

CS: Es ist essenziell. Im Rahmen unserer Programme versuchen wir das aktiv aufzugreifen und scheinbare Selbstverständlichkeiten zu problematisieren – um dann wirksame Lösungen zu erarbeiten und zu implementieren. Dabei geht es nicht darum, die Welt aus den Angeln zu heben – man kann das nicht, man kann nicht die Regeln eines etablierten Spiels einfach über Nacht und mit viel gutem Willen verändern. Wir wollen deshalb den Frauen zunächst bei der erfolgreichen Teilnahme an diesem Spiel helfen. Deshalb heißt unser aktuelles Programm bei Accenture, für das wir Dorothea als Coach gewinnen konnten, „iLead. Make it your game“. Und deshalb coacht in diesem Programm ein diverses Coach Duo: wir wollten sowohl unterschiedliche fachliche Perspektiven, Karriereerfahrungen als auch den männlichen wie den weiblichen Blick auf die Welt.

Wie kann man sich ein solches Programm vorstellen?

DD: Das Programm begleitet die teilnehmenden Frauen und ihre Sponsoren aus dem Top-Management neun Monate lang auf ihren individuellen Entwicklungswegen. Als Coaches adressieren wir vier wirkmächtige Themenfelder: Wir beginnen damit, zentrale Erfolgsfaktoren zu definieren und Begriffe und Konzepte, die in der bisherigen Kultur nie problematisiert wurden, in die Diskussion zu bringen. Wir fragen zum Beispiel: Was heißt für uns „Erfolg“? Gibt es eine spezifisch weibliche Erfolgsdefinition? Was heißt individuelle und kollektive „High Performance“? Wie denken wir Wachstum? Welche strukturellen Themen, eigenen Einstellungen und ungünstigen Verhaltensweisen hindern Frauen daran, Führung zu übernehmen?

Im nächsten Schritt beschäftigen wir uns mit dem Verhältnis zwischen Individuum und Organisation. Beziehungsweise mit dem Selbstbild des Individuums im Kontext der Organisation: Wofür stehe ich? Wie sieht meine „Marke“ aus? Wo und wie will ich einen Unterschied machen? Wie sehen mein Zukunftsbild und meine Roadmap aus? Wie ist es um meine Fähigkeit zur Selbstführung und Selbstfürsorge bestellt? Wie kann ich mir eine „Bühne“ für meinen Erfolg schaffen? Wer könnte mir Vorbild sein? Das sind natürlich nur einige Aspekte aus dieser sehr umfassenden Selbstbeobachtung und Selbstbefragung.

Das ist die individuelle Ebene. Aber es gibt sicher auch eine systemische?

CS: Richtig. Es ist wichtig, dass wir auch die Struktur anschauen, in der die Frauen ihren Karriereweg gehen wollen. Dafür muss man insbesondere verstehen, wie Macht funktioniert, wie und wo sie sich akkumuliert und wie sie zum Einsatz gebracht wird. Man muss die Regeln auf dem Spielfeld verstehen. Es ist alle andere als trivial, denn die meisten davon sind ungeschrieben, oftmals den – männlichen wie weiblichen – Spielern gar nicht aktiv bewusst. Wir machen diese impliziten Regeln explizit. Frauen müssen die männlich geprägten Wertvorstellungen, Haltungen und Rituale, die Körpersprache und das Konfliktverhalten verstehen und eine Art „interkulturelle Kompetenz“ entwickeln. Das bedeutet nicht, männliches Verhalten nachzuahmen – sondern bewusst und stimmig zu kommunizieren, die eigene Klaviatur zu erweitern, um erfolgreich und wirkungsvoll auf diesem Spielfeld agieren zu können.

Besonders wirkungsvoll ist der vierte Hebel: hier geht es um Sichtbarkeit, Vernetzung und gegenseitige Unterstützung: wir ermutigen die Frauen, stärker Präsenz in relevanten internen und externen Netzwerken zu zeigen, als Vorbild sichtbar zu werden, mehr talentierte Frauen ins Unternehmen zu bringen, sich gegenseitig zu unterstützen und auch klar zu adressieren, welche Unterstützung von der Organisation erforderlich ist.

Wie agieren männliche Führungskräfte im Rahmen solcher Programme?

DD: Zunächst einmal dürfen solche Programme ja keine geschlossenen Frauen-Veranstaltungen sein. Wir erleben immer wieder, dass männliche wie weibliche Führungskräfte, oft Vertreter des Top-Managements, die als Sponsoren oder als Mentoren beteiligt sind, sich intensiv reflektieren. Fast alle empfinden es als bereichernd und auch befreiend, wenn die eingeschliffenen Denkmuster aufgebrochen werden und alternative Handlungsmöglichkeiten erkennbar werden. Denn eigentlich weiß ja jeder, dass die Welt sich rasant verändert und dass dieser Wandel einen Kultur- und Strategiewandel auf Unternehmensebene erforderlich macht. Die Schwierigkeit liegt darin, zu erkennen, welche Aspekte des eigenen Denkens und Handelns eine Veränderung erfordern und diese auch konsequent anzugehen. Denn erfolgreicher und nachhaltiger organisatorischer Wandel beginnt immer bei den Menschen, die eine Organisation bevölkern.

CS: Und – so meine Erfahrung mit „iLead“ wie auch in der Arbeit mit anderen Unternehmen – dieser Wandel gelingt oft leichter mit Hilfe eines klugen Blicks und beherzter Unterstützung von außen.

DOROTHEA DERAKHCHAN
ist Trusted Advisor und Potenzialentfalterin für Führungskräfte und Unternehmensberater. Sie ist Gründerin und Geschäftsführerin der auf Coaching, Beratung und Training spezialisierten Boutique Almadera Consulting sowie Associate Partner der Personal- und Organisationsberatung dla.

Vor der Gründung von Almadera arbeitete die Volkswirtin viele Jahre in unterschiedlichen Führungspositionen in einem internationalen DAX-30-Konzern. Sie verfügt über umfangreiche Expertise in den Bereichen Organisations-, Zukunftsbild- und Leitbildentwicklung, gibt Trainings in Trusted Advisory und Führung auf Augenhöhe und begleitet ihre Kunden als Executive Coach bei individuellen Entwicklungs- und Veränderungsprozessen.

DR. CHRISTINE SOLF
gestaltet unkonventionelle Entwicklungsprogramme für Talente und Führungskräfte. Als Senior Managerin der dgroup, einem Teil des Beratungsunternehmens Accenture, begleitet sie digitale Transformationen mit Fokus auf Organisationsentwicklung und der Einführung neuer Wege des Arbeitens und Führens. Die promovierte Soziologin mit systemtheoretischem Fokus nutzt diesen nachhaltig in ihrer Beratertätigkeit.

Ihre Arbeitsweise beschreibt sie mit #nag&nurture: mit unverstelltem Blick Situationen analysieren und adressieren, wo Veränderung hilfreich wäre, um diese dann beherzt zu begleiten. Diverse, komplementäre Teams und die Entwicklung weiblicher Führungskräfte sind ihr ein besonderes Anliegen, damit noch ungenutztes Potential zur Wirkung kommen kann – und damit Vorbilder und best practice sichtbar werden, die dann weitere Menschen motivieren, etwas Neues zu wagen.

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