Connected Life schlägt Connected Car – Digital Leadership in der Automobilindustrie – Teil 1

Marcel Ramin Derakhchan2. April 2019

Mit Dr. Rainer Mehl, Managing Director Manufacturing, Automotive and Life Sciences bei Capgemini Invent sprachen wir darüber, wie Automobilhersteller eine digitale DNA entwickeln. Welche Schritte von der Produkt- zur Kundenzentrierung dies erfordert, schildert der erste Teil des dla Perspektiven-Interviews. Erfolgsfaktoren für die Umsetzung durch Führungskräfte in der Unternehmensorganisation und -kultur stellen wir im zweiten Teil des Interviews vor.

dla: Herr Dr. Mehl, gäbe es eine Champions-League der Transformation in der deutschen Industrie, dann müsste sich der Automotivesektor besonders häufig beweisen: Klimaschutz, E-Mobilität, Handelsschranken, Digitalisierung – kaum eine Branche ist an so vielen Fronten einem so hohen Veränderungsdruck ausgesetzt. Wo sehen Sie den dringendsten Handlungsbedarf?

Rainer Mehl: Definitiv beim Thema Digitalisierung. Obwohl es die mit Abstand wichtigste Disziplin ist, um nicht den Anschluss an seine Kunden zu verlieren, kann sich in dieser Hinsicht derzeit kaum ein OEM oder Zulieferer als Champion positionieren. Zumindest nicht mit einem Reifegrad, wie ihn die Technologiekonzerne seit Jahren vorleben – siehe im Westen insbesondere GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon), in Asien Alibaba, Baidu und Tencent.

Als Treiber der Digitalisierung haben sich diese Unternehmen mit ihren Produkten und Geschäftsmodellen bereits fest im Konsumentenalltag verankert. Das wird natürlich vor allem im Beispiel des Smartphones manifest. Kaum ein Produkt der jüngeren Vergangenheit hat die Kundenerwartungen im Sinne von relevantem Inhalt und Seamlessness, einfacher Bedienbarkeit, derart geprägt.

dla: Und übertragen auf die Automobilindustrie bedeutet das …

Rainer Mehl: … neue Wettbewerber im Blick zu haben, die dieses Prinzip zum Aufbau von Kundenbeziehungen nutzen. Das gängigste Beispiel ist Tesla: gemessen an den klassischen Produktkriterien der Automobilindustrie gibt es dort sicherlich noch Verbesserungspotenzial bei Qualität, Sicherheit oder Fahrkomfort der Modelle. Aber wenn Sie heute Ihren Wunsch-Tesla online konfigurieren, dann können Sie das nicht nur in wenigen Minuten erledigen, sondern Sie erhalten auch sehr schnell ein Testfahrtangebot per Email.

Eine digitale Customer Journey mit dem Produkt „Fahrzeug“ zu initiieren und aufrecht zu erhalten, ist nicht trivial. Aber technologische Komplexität in einen reibungslos funktionierenden Informationsfluss zu überführen und darüber Kundenbeziehungen komplett neu aufzubauen, ist heute ein erfolgskritisches Talent – über das die meisten anderen Automotive-Unternehmen schlichtweg noch nicht verfügen.

dla: Woran liegt das?

Rainer Mehl: Diese Fähigkeit entwickelt sich natürlich ebenfalls mit dem Markt, mit den Kunden. Die großen Weltmarken wie VW, Audi, Mercedes, BMW, Porsche, haben sich aber nun einmal über Jahrzehnte darauf fokussiert, ihre Produktion permanent zu verbessern. Mit dieser tiefen Produktzentrierung sank zuweilen die Aufmerksamkeit für den Vertrieb und die Kundenbedürfnisse.

Der „Switch“ von der Produkt- zur Kundenzentrierung funktioniert aber nicht, indem man einen magischen Schalter namens „Digitalisierung“ umlegt. Das ist ein Prozess, der intensiven Ressourceneinsatz fordert, hinsichtlich Geld, Zeit, Know-how, Risikobereitschaft. Mindestens zwei oder drei der genannten Punkte sind aber in der Regel einfach nicht vorhanden. Womit wir wieder an der Quelle des Veränderungsdrucks wären.

dla: Wie sollten Automobilhersteller denn eine Customer Journey gestalten, um diesem Druck entgegenzuwirken?

Rainer Mehl: Sie müssen den Puls einer digitalisierten Lebenswelt spüren und passende Produkte für diese Welt entwickeln. Etwa, indem sie zum einen den Nutzen und Wert des Fahrzeuges in konkreten Alltagsszenarien ihrer Kundenzielgruppen minutiös nachvollziehen: wie nutzen zum Beispiel FahrerInnen die Office-Funktionen oder Schnittstellen auf dem Weg ins Büro? Welches Marktpotenzial hat ein KI-Software-Service, der nicht nur den Terminkalender von Fahrzeug und Smartphone synchronisiert, sondern je nach Verkehrssituation selbstständig verschiebt?Zum anderen sollten sie den Horizont deutlich über das Fahrzeug hinaus erweitern, auch wenn das schwerfallen mag. Das Erlebnis „Mobilität“ ist aber heute eben nicht mehr an vier Räder gebunden. Und wenn in zehn Jahren tatsächlich 60 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben sollten, wird das noch viel seltener der Fall sein.

dla: Was für die Automobilhersteller bedeutet …

Rainer Mehl: … dass in einem solchen Szenario der beste Mobilitätsdienstleister nicht derjenige mit dem cleversten autonomen Auto ist – sondern derjenige mit den cleversten Vernetzungsvorschlägen, die seinen Kunden schnell und bequem von A nach B bringen. Sei es mit einem Mix aus U-Bahn, E-Roller und Auto. Ein „Connected Life“ schlägt jedes „Connected Car“. Mit dieser Form von Vernetzung ließe sich auch wiederrum ein Stück weit Hoheit gegenüber Google, Facebook, Apple & Co. gewinnen.

dla: Aber gerade im Rennen um die Marktpotenziale des „Connected Car“ und „Mobile Office“ beschwören die von Ihnen genannten Premiumhersteller doch schon seit Jahren ihren Siegeswillen im Wettbewerb mit GAFA & Co.

Rainer Mehl: Ja, nur liegt die entscheidende Herausforderung nicht allein im technologischen Vorsprung. Sondern darin, in allen Dimensionen der Kundenbeziehung aus der reaktiven wieder in eine initiative Position zu wechseln. Im Kontext ihrer Digitalisierungsstrategien sollten sich Automobilhersteller dazu an vier Kundenerwartungen messen lassen: neben der genannten Einfachheit sind das eine Durchgängigkeit der Customer Journey, eine situative Relevanz der Angebote und Premiumservices.

In allen vier Feldern erschwert allerdings eine weitere „Komplexitätsbremse“ den Shift von der Produktzentrierung zur Kundenzentrierung: Lösungen für den richtigen Umgang mit Kundendaten zu finden. Ein Element dieser Komplexität besteht etwa darin, dass der Hersteller und sein Vertriebskanal, der Handel, rechtlich getrennt sind; die Händler sind rechtlich eigenständige Unternehmer. Entsprechend reibt man sich in Deutschland nun schon seit Jahrzehnten an der Frage auf, wer Eigentümer der Kundendaten ist, die in dieser Beziehung anfallen. Obwohl uns das glasklar erscheint – der Kunde – ist das in der Industrie noch immer nicht beantwortet.

Nur: die Diskussion zwischen Hersteller und Händler, wem die Kundendaten gehören, verlieren letztendlich beide. Es sei denn sie erkennen, dass sie auf den digitalen Austausch mit ihren Kunden ebenso dringend angewiesen sind wie auf den persönlichen Kontakt, um ihnen eine bestmögliche Customer Experience zu bieten.

dla: Was ja auch vor dem Hintergrund verschärfter Datenschutzrichtlinien wie der EU-DSGVO für alle Beteiligten praktikabel gelöst werden sollte …

Rainer Mehl: Genau. Hier sollte die erste Frage immer lauten: hat der Kunde zugestimmt? Ist das der Fall, dann erwartet der Kunde möglicherweise auch, dass sich der Hersteller und der zuständige lokale Händler auch austauschen. Sprich, dass Onlinedaten, etwa über die Fahrzeugkonfiguration, an den Handel gehen. Zugleich sollten vom Handel auch wesentliche Informationen zurück an den Hersteller gehen, um vollständige Kundeninformationen zu haben.Ohne eine Harmonisierung aller verfügbaren Informationen wird man die vier Kundenerwartungen – Einfachheit, Durchgängigkeit, situative Relevanz und Premiumservices – nur mit Lösungsfragmenten und Kompromissen bedienen können. Dieses Thema ist in Deutschland nach wie vor nicht gelöst, es sollte eine hohe Priorität haben. Nicht nur, weil es technologisch machbar ist. Sondern weil alle vier Aspekte die digitale DNA der Automobilhersteller prägen.

dla: Welcher Ansatzpunkt ist denn besonders geeignet, um die Unternehmensorganisation eines Automobilherstellers in Richtung Kundenzentrierung zu steuern?

Rainer Mehl: Denken Sie den Vertriebsprozess neu! Bislang erfahren die meisten OEM eher punktuell und in verschiedenen Bereichen, was der Endkunde tatsächlich will: aus Marketingaktionen, Befragungen, Händlerfeedbacks. Aus Instrumenten, an die man sich gewöhnt hat und die auch weiterhin funktionieren werden – aber eben nicht der Dimension der genannten Herausforderung gerecht werden.

Hinzu kommt: ungeschriebene Organisationsgesetze wie „clustere Informationen in Zuständigkeits-Territorien und schaffe so Herrschaftswissen“ sind mit der Digitalisierung passé. Im Vertriebsprozess betrifft das Sales mit verschiedenen Unterbereichen, die in der Regel allesamt von After Sales komplett getrennt sind. Für die Dimension „Customer Centricity“ ist das der vielleicht fatalste Informationsverlust.

dla: Aus welchem Grund?

Rainer Mehl: Weil das Kundenerlebnis über längere zeitliche Perioden der Fahrzeugnutzung nicht transparent wird. Nehmen wir mal an, der Verkaufsprozess erstreckt sich über einen Zeitraum zwischen einer Woche und einem halben Jahr. Hier werden Kunden X-mal um Feedback gebeten. Aber dann nutzen sie ihr Fahrzeug, ob privat oder als Firmenwagen, mindestens drei Jahre, vielleicht sogar länger.

Und nun verstummt die Kommunikation plötzlich, statt in diesem Zeitraum den Kundenkontakt mit Angeboten, Serviceleistungen, Informationen aufrecht zu halten. Dafür gibt es selbstverständlich eine Menge „richtige“, da nachvollziehbare Gründe: der Aufwand, Zuständigkeiten von Aftersales und Hersteller zu klären und Informationen mit einem Plan zu teilen; das Risiko, neue Sales-Kanäle mit hohem Einsatz und geringen Ergebnissen auszuprobieren usw. Aber was ist mit dem Risiko, beim Kunden den Eindruck zu erzeugen, dass er alleingelassen wird?

Zum zweiten Teil des Interviews gehts hier.

Interviewpartner

Dr. Rainer Mehl leitet als Executive Vice President das weltweite Automotive und Mobility-Geschäft von Capgemini Invent. Zusätzlich verantwortet er dort die Beratungsbereiche für Manufacturing und Life Sciences und ist Teil des globalen Führungsteams. Er unterstützt Unternehmen bei der digitalen Transformation mit den Schwerpunkten Customer Centricity, agile Organisation und neue Geschäftsmodelle.